Internet-Präsenz Stefan Eisermann: Thomas Kumlehn über St. E.

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[Hinweis]

 

 
 

 
Der Himmel, die Hölle, die Welt – Lebensbilder des Stefan Eisermann                    

 

BAAL: Mein Himmel ist voll von Bäumen und Leibern.
PFARRER: Reden Sie nicht davon. Die Welt ist nicht ihr Zirkus.
BAAL: Was ist dann die Welt?
PFARRER: Gehen Sie nur! Wissen Sie: Ich bin ein sehr gutmütiger Mensch.
Ich will Ihnen auch nichts nachtragen. Ich habe die Sache ins Reine gebracht.
BAAL: Der Gerechte hat keinen Humor, Ekart! (1)

 

Der vorangestellte Dialog stammt aus dem 1918 entstandenen Theaterstück »Baal« von Bertolt Brecht (2).Stefan Eisermann begegnete der Inszenierung 1988, während seiner Tätigkeit als Requisiteur am Hans-Otto-Theater in Potsdam (3). Die Robustheit des in einer eingängigen – an der Bibel orientierten – Sprache dargestellten Künstlers provozierte auch Jahrzehnte nach der ersten Veröffentlichung der dramatischen Vor- lage. Der schonungslose Baal spottet gegen jede Moralisierung seines Handelns. Auch die des Pfarrers. Vital und trunken überrennt er jeden Beziehungsversuch und weiß sich – alles im Vorbeigehen nehmend – selbstbewußt singend allein. Er reflektiert in seinen anarchistischen Liedern das ihn umgebende Leben. Am Ende stirbt er im Dreck liegend und auf den Regen horchend. Eisermann nahm den radikalen Stoff als ein- dringliche Aufforderung, sich dazu ins Verhältnis zu setzen. Baals schrammende Be- denkenlosigkeit und unbändige Lebensfreude regten ihn an. Es gibt insgesamt drei Bilder, in denen er den Mann und Künstler Baal in einen identifikatorischen Zusammenhang zu stellen suchte. Es handelt sich um die Bilder: »Der BAAL« vom 20.5.1988 (WV 263), »Der Baal von S.E.« vom 10.6.1988 (WV 269) und das Bild »Ausrufer der Lebensfreude«, das am 22.10.1888 datiert ist (WV 294) (4). 
Schon während der Probenarbeit entstand das erste Bild. Auffällig ist der Kontrast zwischen heftiger Linienführung und zarter Farbgebung. Das Lineament liegt wie ein engmaschiges Netz über den breit gezogenen Farben. Eine Szenenanweisung (5) wurde zum Bildauslöser und Voraussetzung für einen eigendynamischen Verlauf. Wo- bei sich der Maler symptomatisch vom Text löste. Nur so konnte er als Gestalter die eigene Form und als Interpret die eigenen Gedanken artikulieren. Bei Brecht findet man das gefährliche Knistern der aggressiv vorgetragenen Promiskuität Baals, mit der eine Frau (Sophie) eingeschüchtert wird. Eisermann hingegen zeichnet das selbstbe- wußte Tändeln eines verliebten Paares in einem erotisierenden Flirt »davor«. Hier wie dort führt der Mann und folgt die Frau. Vielleicht eine Lebensphilosophie Eisermanns? Dafür spricht ein programmatisches Blatt: »Mann und Frau, Wahrhaftigkeit«. Ganz deutlich steht die Frau hinter dem Mann. Sie legt den Arm um ihn. Er berührt ihre Stirn. Zwei Mondformen deuten auf den Kreislauf des Lebens, verkörpern die Unbe- ständigkeit. Die Figuren stehen unter einem Zeltdach, das den Blick zum Himmel frei- gibt. Der Nimbus, jeden Kopf umgebend, läßt sie zu einem heiligen Paar werden. Die zitierte frühchristliche Ikonographie, wie der Heiligenschein oder das verwendete Gottesauge, unterstützen den Charakter eines stillen Andachtsbildes, das in aller Pri- vatheit die heterosexuelle Liebe idealisiert – wären da nicht die schwarzen Schatten auf den ganz in Weiß gespachtelten Leibern.

Sichtet man das Lebenswerk Stefan Eisermanns, fällt unweigerlich auf, daß Bildmoti- ve der christlichen Ikonographie und biblische Gleichnisse in den Bildtiteln von den Anfängen, und wie im weiteren gezeigt werden wird, bis zu seinem Lebensende zu finden sind. Das verwundert zunächst, wenn man weiß, daß der Maler zeitlebens kei- ner konfessionellen oder freikirchlichen Religionsgemeinschaft angehörte. Er wuchs in einem kommunistisch orientierten Elternhaus auf. Die Tatsache, daß auf seiner Ge- burtsurkunde vom 12.6.1945 beide Eltern als »gottgläubig« bezeichnet sind, war allein den damaligen Verwaltungsvorschriften geschuldet (6).  Es wäre allerdings vor- schnell, daraus zu schließen, daß die Bibel bzw. christliches Gedankengut im Eltern- haus des Malers tabuisiert oder verpönt worden wären. Seine Mutter hat eine christ- liche Erziehung genossen (7). 1952, nach einem zweijährigen Studium an der Partei- hochschule in Kleinmachnow und inzwischen alleinerziehend, begann die Mutter in der Bezirksleitung der SED in Rostock zu arbeiten. Sie gehörte einer Abteilung an, die für Kirchen- und Religionsfragen zuständig war. Sein Vater, Ludwig Eisermann, war ein gebildeter Mann, der gerade im Umgang mit bildender Kunst sachkundig über den biblischen Hintergrund von Gemälden referieren konnte. Anzunehmen ist, daß die El- tern ihre Toleranz auf die kulturgeschichtliche Bedeutung des Religiösen im Allgemei- nen und auf konfessionelle Glaubensgemeinschaften im Besonderen bezogen und re- duziert haben.

Als Stefan Eisermann 1975 mit dem Malen anfing, war er bereits 31 Jahre alt. Er ver- gegenwärtigte sich zunächst seine unmittelbare Umgebung. In den ersten Bildern tauchen neben dem Maler selbst, seine Ehefrau, die gemeinsame Tochter Mandy, der Kater, die Wohnung und die Rostocker Südstadt auf. Oft auf der Grundlage eigener Fotografien entstanden, sind die Bilder eine Bestandsaufnahme seines Milieus. Die Sujets lassen sich zu einem Panorama ordnen, das wie eine private Inventur er- schlossen werden kann. Vor allem schulten sie seinen Blick für das, was er sah und auch abbilden wollte. Schon früh ist der erzählerische Charakter der Bilder auffällig.
Stilistisch wurde er – in der Familie und unter Freunden mit Sympathie – als Naiver empfunden. Er hielt sich an diesen Stil, weil das Fabulieren seinem gestalterischen Vermögen als auch seiner bildnerischen Neigung entsprach. Malerische Orientierung und die Unterschiede der Qualität sogenannter naiver Malerei konnte er in den 70er Jahren auch in der DDR kennenlernen. Buchveröffentlichungen (8) bestärkten ihn, der eigenen Auffassung zu vertrauen und Ausstellungen sowie Vorträge führten ihn auf Menschen zu, mit denen er in einen intensiven künstlerischen Gedankenaustausch treten wollte. Die emotionale Aufladung seiner Bilder tritt in den ersten beiden Jahren nur sparsam hervor. Gestalterisch durchschritt er in etwas mehr als zwei Jahrzehnten eine weite Spanne, die mit dem gegenständlichen Abbuchstabieren der Wirklichkeit (1975 bis 1979) begann. Danach folgte eine mehr und mehr affektiv gesteuerte Mal- haltung (1980 bis 1991). In den 90er Jahren wird die eigene Formensprache immer deutlicher, in der besonders die symbolische Herzform (9) hervortritt. Mit ihr findet er seine Farbgrammatik (10) und Materialien, die er von nun an eigenwillig verwendet.
Gerade in seinem Spätwerk hat Stefan Eisermann die Einbeziehung graphischer sowie zeichnerischer Darstellungen und Techniken untersucht und praktiziert. Sowohl Blei- stift- und Kohlezeichnungen, als auch Schnittbilder werden zu sekundären Rohstoffen seiner Malerei. Die materialintensive Dichte der Bilder von 1991 bis 1998 und deren konsequente Formensprache kanalisierten die vergorene Sattheit der Farbverläufe. Von Anfang an um Symmetrie bemüht, zieht er auf dem Malgrund den äußeren Rah- men, der ihm zunächst diese Stabilität verspricht. Als hätte er seine Theatererfah- rung sublimiert, stellt er sich mit diesen oft ornamental durchwirkten Bildkanten den Raum im Raum zur Verfügung, durch den er Farben verlaufen läßt und mit der Zei- chenkohle Konturen zieht. Augenfällig ist, wie bedächtig die Bildentstehung vonstat- ten gegangen sein muß. Nicht unerheblich für diese Langsamkeit war die Tatsache, daß sich Stefan Eisermann zum Malen demonstrativ zurückzog. Er richtete sich – weil er über kein Atelier verfügte – in der Wohnung ein provisorisches Refugium ein. Dazu gehörten der Rotwein (11), die brennende Kerze und Musik (12). Bis auf die Wo- chenenden oder den Jahresurlaub war es ihm in der Regel nur möglich abends bzw. nachts zu malen.

Ungeachtet dessen malte er täglich mit Leidenschaft. Wenn er in den Zeiten seiner Berufstätigkeit nachts malte, führte dies zu Spannungen in der Familie oder mit sei- nen Arbeitgebern. Beirren ließ sich Stefan Eisermann von den Konsequenzen nicht. Vielmehr gehörten sie seit 1977 zu den Grundkonflikten, die seine Bilder bestimmten.
Sie bettete er in Sujets, die er meist dort fand, wo er sich hingezogen fühlte. Dazu gehörten der Hafen, der Zoo oder der Zirkus, auch sakrale Orte und Gottesdienste.
Die Gründe für die Bevorzugung von Motiven und Sprachbildern mit vornehmlich reli- giösem Konnotationen lassen sich schnell umreißen: Ihr Gebrauch ist autobiogra- phisch motiviert, um eine zeitlich an die Gegenwart gebundene Situation oder Perso- nen als bildnerisches bzw. sprachliches Gleichnis verarbeiten zu können. »Das jüng- ste Gericht« steht am Anfang der ironisch anmutenden Bildgeschichten, mit denen er seine Erfahrungen – wie eine conclusio – biblisch einkleidete. Das 1977 entstandene Bild weist sehr charakteristische Merkmale der frühen Phase seines Schaffens auf.
Das kleine Format, die fibelhafte Gestaltung und die skurrile Bildwelt: Die tagträu- merische Szenerie ist eingebettet in eine ansteigende Landschaft. Die harte Zwei- teilung konfrontiert den Betrachter – der Titel legt Himmel und Hölle nahe – mit den Zeitzonen Tag und Nacht. Getrennt wird der Himmel von einem fünffarbigen Regen- bogen. Von der Mitte der linken Bildkante macht sich eine rote Chaussee auf dem Ra- sen breit, die kurz vor einem halb abgetragenen Berg in einer Senke entschwindet. Zwölf Straßenbäume markieren ihren weiteren Verlauf bis zur Mitte der rechten Bild- kante. Parallel dazu – aber in der Gegenrichtung –wird das Bild von einem Flußband durchzogen. Stehen auf dem Oberlauf des Flusses zwei tanzende Männer, befindet sich unterhalb eines Wasserfalls ein Schreibtisch mit drei Sitzenden. An der unteren Bildkante steht ein Monteur im Blaumann. Kleidung und Hammer symbolisieren den Be- rufsstand. Während die Sitzenden teilnahmslos auf die (irgendwann) herabgespülten Männer warten, sucht der Arbeiter – gebannt nach oben schauend und eingerahmt zwischen zwei Pfingstrosenbäumen – die Zeichensprache der über ihm Stehenden zu entschlüsseln. Es bleibt unklar, ob er sich ihnen anschließt und die Nacht zum Tag oder den Tag zur Nacht macht. Die beschriebenen Bildebenen vermitteln eine weit- schweifige Aufzählung von mühsam miteinander verbundenen Details. Diese wirken wie horizontal gestaffelte Embleme.

Den biblisch intendierten Bildern wohnt ein starker Mitteilungsdrang inne. Eisermann verknüpfte seine nacherzählte Wirklichkeit mit bezugnehmenden Bibelstellen, als woll- te er das ewig Gleiche menschlicher Verhaltensweisen herausfinden und malend in ei- ner Art »Metasprache« benennen. Insofern ist das »Jüngste Gericht« ein erstes Bei- spiel dafür, daß Stefan Eisermann nie die Bibel illustrierte. Nein, er setzte seine Er- fahrungen in Allegorien um und versicherte sich damit der Anverwandlung des Ereig- nisses in ein für ihn glaubwürdiges Bild. Angemessene Darstellung und Nachvollzieh- barkeit des Dargestellten waren ihm gleichermaßen wichtig. Er konnte voraussetzen, daß Betrachtern biblische Namen und Themen zumindest umgangssprachlich geläufig waren. Unter dieser Voraussetzung erschloß er sich die Motivation für das in An- lehnung an die Bibel zu gestaltende Motiv. Der biblische Ursprung desselben bildete schon in der Entstehungsgeschichte des Bildes die kulturelle Übereinkunft zwischen Maler und Betrachter. Mit der Aneignung dieser Codierung ging – wie am Beispiel des »Baal« bereits erläutert – die Lust der eigenen Interpretation einher, indem er sich alle erzählerischen Freiheiten erlaubte. Er konnte sich auf die Andeutungen eines Ge- schehens beschränken, das sowohl aus der Kenntnis der biblischen Bezugsebene wie auch von der autobiographischen Projektion gespeist wird. Er bediente sich des bibli- schen Stoffes, weil ihm das Alte und Neue Testament verfügbare Urbilder resp. Archetypen für jedwede zwischenmenschliche Konflikte boten, die gleichermaßen als Modelle für den stetig suchenden Maler und lebenslangen Atheisten Stefan Eisermann geeignet waren. Vielleicht hat er deshalb fast gleichzeitig das Anekdotische dersel- ben Erfahrungen in zwei weiteren Bildfassungen verarbeitet. Thematisch bezogen auf das »Jüngste Gericht« sind die im selben Jahr entstandenen Bilder »Waschhaus – Ge- nossen« und »Die Schiedskommission«.

Eisermann führte kein Tagebuch. Seine Chronik war die Malerei. Geborenwerden und Sterben waren für den Maler zentrale Themen. Wenn er glücklich war, trug er seinen Frohsinn in die Malerei. »Die Verkündigung«, aber auch »Josef und Maria« gehören in den Zeitraum zwischen Zeugung und Geburt seiner Tochter Theresa. Der weibliche Engel der »Verkündigung« schwebt – das Bildformat fast ausfüllend – über einer Halbinsel. Sein roter Haarschopf hat sich geteilt und wird zu einem zweiten Flügel- paar. Den Kopf ziert eine Krone. Der Blick gilt dem Betrachter. In der linken Bildhälfte steht ein Baum unmittelbar am Ufer, in dessen fahlem Geäst die Sonne thront. Das Wasser eines Sees erscheint nur angedeutet – blau getupft. Hinter dem Baum befin- det sich ein weißes, gestrandetes Schiff, auf das zwei fleischfarbene Widder in trau- ter Zweisamkeit zugehen. Das männliche Tier – übrigens das Sternbild des Malers – trägt Hörner und verfügt über ein Flügelpaar, dessen Schwingen über dem Rücken weit auseinander stehen, als sei es soeben gelandet. Zu vermuten wäre ein Bekennt- nis zum Seßhaftwerden. Dem Bild »Josef und Maria« ist eine ähnliche antizipatorische Kraft eigen als auch die dem Garten Eden entlehnte Semantik: Im Zentrum des ada- mitischen Geschehens setzt Josef seine Maria fürsorglich auf ein blauschwarzes Pferd. Beide befinden sich auf einer unterspülten Wanderbühne. Das ausladende Bek- ken und der betonte Bauch Evas allegorisieren bei allen anatomischen Mängeln die ambivalente Situation des Lebensgefährten einer Frau, die ihr Kind austrägt. Eine Spirale markiert kreisend das freie Feld. Auf dem äußeren Streifen liegt das nach oben offene weiße Haus einer Weinbergschnecke, dem eine nackte Heilige ent- schwebt. Rechts neben ihr nähert sich im Steilflug ein möwenähnlicher Vogel, als wolle er das Gehäuse (13) inspizieren. Das vor einem Berghang gelegene bewimpelte Zeltlager scheint dem Paar keinen Schutz zu bieten. Das umsäumende Wasser des Baches steigt und schiebt einen Schlangenleib vor sich her. Ein Früchte tragender (Orangen-)Baum steht bereits mitten in dessen Bett. Dahinter liegt die Leiche einer Frau. Der pastose Himmel ist regenvoll. Die Böen treiben die Haufenwolken. Mit bei- den Bildern versuchte der Maler sein aufgeregtes Warten als eine väterliche Vorfreu- de detailreich zu dramatisieren.

Einsilbiger malte er, wenn er schwermütig war. Wollte er seiner Schwermut Raum ge- währen oder nach Schicksalsschlägen Trost finden, setzte der Maler die seelische Wundheit ins Bild. Eisermann hielt sich immer an der Symmetrie seiner Bilder fest. Je angeschlagener er war, umso mehr entglitt ihm die Form, die er daraufhin mit der Farbe – oder in den 90er Jahren auch mit vorgefertigten Materialien – zu bändigen suchte. In der verzweifelten Anrufung »Oh, Gott« widmete er sich dem Verlust des Freundes Max Kiesow. Die gen Himmel erhobenen Arme der fassungslosen Figur sind mit Kohle stark betont. Sie verleihen der zartfarbigen Komposition nur einen labilen Halt. Man spürt die Sprachlosigkeit gegenüber der Tragik des Geschehens. Das Bild ist unmittelbar nach dem Freitod des befreundeten Malers entstanden, der mit seiner Familie in Freudenberg bei Ribnitz-Damgarten gelebt hatte.

Neben sehr privaten Ereignissen finden sich in der Eisermannschen Chronik durchaus auch Stellungnahmen zu gesellschaftspolitischen Veränderungen. Einem seiner Bilder, im April 1990 datiert, gab er den Titel »David und Goliath« (WV 400). Es steht ganz klar im Zusammenhang mit der damaligen politischen Situation im wiedervereinten Deutschland. Beide Akteure befinden sich in sattgrüner Frühlingslandschaft – von einer dünnen, pflanzlich wirkenden Wand getrennt. Goliath deutet eine Bewegung an. Sein Oberschenkel schiebt scheinbar die florale Wand wie einen Fächer zusammen. Sein Blick richtet sich vehement gegen David. David wiederum wirkt wie ein Kind – unbescholten und ahnungslos. Er schaut den Betrachter an und winkt ihm zu. Diesem Blatt – ein nüchternes und objektivierendes Zeitresümee – kommt auf Grund der emotionalen Distanziertheit wohl eher eine marginale Bedeutung zu. Beherrscht wird das Gesamtwerk des Malers von einer identifikatorischen Unbedingtheit. Beispielhaft dafür ist das fünf Jahre später entstandene Bild »Daniel in der Löwengrube«. Es be- zeugt sehr deutlich, daß für Eisermann vorrangig der situationsgebundene Eindruck Impuls zur Bildentstehung war. Ein wesentliches Indiz dafür ist die oft festzustellende genaue Datierung, die einer Tagebucheintragung gleicht. In der Regel findet sie sich auf der Bildrückseite. Bisweilen zusammen mit dem Titel und einem Zitat, das wie ein Erinnerungsfetzen den gerade verarbeiteten Bildanlaß memorierte. Mehrere Werke lassen sich auf das unmittelbare Ereignis zurückführen. So ist in seinem Kalender des Jahres 1995 nachzulesen, daß er noch im April hoffte, den für den 1. Mai datierten Beginn seiner Arbeitslosigkeit nicht erleben zu müssen (14). Stefan Eisermann bangte auch um seine finanzielle Unabhängigkeit (15). In dieser Zeit entstand besagtes Bild, das er am 2. 5. 1995 beendete. In einem zersplitterten Bildraum liegt Daniel wie ein Versehrter auf einem Karren. Über ihm ein Löwe, der sich an ihn schmiegt, als wolle er ihn wärmen. Er wirkt mehr wie ein tröstender Freund als ein wildes Tier. Der den biblischen Daniel auszeichnende Glaube, welcher ihm eine das wilde Tier domestizie- rende Kraft verleiht, ist von Eisermann nicht zitiert. Mit der Tätowierung auf dem Oberarm läßt sich der Maler identifizieren (16), der siech darniederliegt, als würde er besserer Zeiten harren. Oberhalb des Kopfes hat er einen Frauentorso wie eine scha- le Erinnerung plaziert. Die Farbigkeit wirkt dumpf, roh die Bildgestaltung. Einzig das Fell des zahmen Tieres leuchtet in einem warmen Goldgelb.

Stefan Eisermann sehnte sich nach einer tragfähigen Paarbeziehung, die er jedes Mal wieder als Lebensentwurf idealisierte und gefunden zu haben glaubte. Er stürzte sich unbefangen in jede Liebe, als wäre es seine erste. An Ungewißheiten rieb er sich stets auf. Sie waren seinem Lebensmut abträglich und versetzten ihn in einen Zu- stand der Apathie. In seiner Malerei suchte er hartnäckig nach adäquaten Formu- lierungen für den aktuellen Zustand, in dem er sich jeweils befand. Übermalungen von Bildern und auch Zerstörungen sind keine Seltenheit. Beispielsweise suchte er sowohl ein und dasselbe Thema in verschiedenen Bildsprachen zu reflektieren als auch ein- zelne Bildmotive, wie Adam und Eva (WV 506, 568, 610, 656) oder »Der heilige Georg« (WV 276, 553) von Zeit zu Zeit neu zu bewältigen. Der Wille, christliche Mo- tive zu säkularisieren, um sie zu verlebendigen, stand in dialektischer Beziehung zur bildkünstlerischen Verewigung des eigenen Lebens. Man vergegenwärtige sich nur, daß er seit 1990 immer häufiger Symbolpaare, wie Mond und Sonne, oder Voll- und Sichelmond auf seinen Arbeiten neben- oder untereinander malte. Auch in seiner Be- schäftigung mit Photographie wird diese Haltung plausibel. Insbesondere, wenn er Photographien als Vor-Bilder genutzt hat. Viel deutlicher wird der Aspekt der Verewi- gung jedoch im Umgang mit der eigenen Video-Kamera. Die Facetten seiner Doku- mentationen reichen vom stoischen Abfilmen von Familienfeiern, Reisen und Begeg- nungen mit Freunden, über das Erfassen seiner Bilder, das Dokumentieren von Aus- stellungen und das Aufzeichnen von malerischen Prozessen. 1994, es war sein 51. Geburtstag, antwortete er auf die Frage, warum er sich in jenem Moment ohne seine Gäste aufzeichnete: »Ich wollte mich einmal dramatisieren.« Der Satz liest sich wie ein Credo, mit dem man auch den Bildern gerecht wird, die Gegenstand des Textes sind.

Er studierte leidenschaftlich Bücher über das Leben historischer Persönlichkeiten. Da- zu gehörte auch Jesus, mit dessen Leben er sich aus naheliegenden Gründen beson- ders aufmerksam beschäftigt hatte. 1991 malte er einen dreistufigen Kreuzwegzyk- lus, der seinen Platz in einem öffentlichen Andachtsraum fand. Eisermann freute sich über den Ankauf, sah aber keinen zwingenden Grund, an dessen Einweihung teilzu- nehmen (17). Wie er sich auch nie darum bemüht hat, seine Arbeiten in einer Kirche zu zeigen oder sich an einer Ausstellung mit religiöser Thematik zu beteiligen. Den- noch sehnte sich der Atheist Eisermann nach übersinnlichen Erfahrungen. Die Passion Jesu faszinierte ihn mit ihrer radikalen Ausschließlichkeit. Jesus als historisch-konkre- ter Mensch, der liebte und litt, zog ihn massiv an. Das profane Martyrium als Voraus- setzung für Transzendenz schien er für sein Leben mit einer eigenen Übersetzung zu versehen. Glaube und/oder Religion waren für den Maler Stefan Eisermann offenbar aber nicht die geeigneten Wege, um zum Ersehnten zu gelangen (18). Insbesondere Mitte der 90er Jahre wurde er zum obsessiven Chronisten, der sein ICH als Topos verstand und SICH hauptsächlich innerhalb der malerischen Offenlegung zu bestäti- gen suchte. Ein Chronist war er, der mit genauer Datierung um die eigene Fassung gerungen hat, als sollte ihn jedes Bild – aber inzwischen auch jede Videoaufzeich- nung und jeder Kalendereintrag – mit der verunsichernden Wirklichkeit aussöhnen.

Stefan Eisermann blieb ein regelmäßiger Kinogänger. 1995 gelangte der amerikanische Film »Dead Man« in die Kinos. Darin fragt Johnny Depp als William Blake: »Why dost thou silent and invisible, Father of Jealousy?« (19)
Mit dieser Frage beginnt ursprünglich das Poem »To Nobody«.20 Gott als Niemands- vater – so sah ihn wohl auch Stefan Eisermann. Noch im selben Jahr schnitt er für sein Bild »Himmel und Hölle« Papierengel aus, die er gelb, rot und blau bemalt auf ein quadratisches Raster setzte. Ein schwarzer Engel – wahrscheinlich die Schablone – befindet sich im Nachlaß. Auf deren Rückseite notierte er: »23.1.95 Mystizismus – Teufel und Engel«. Wie bereits anhand der ersten Bilder, die 25 Jahre früher entstan- den, erläutert, versah der Maler auch die Bilder seines Spätwerks mit Zeichen, die ei- nen emblematischen Charakter tragen. Hier erst ist die ornamentale Gliederung von Symbolen in scharf konturierten Farbtönen und der Verzicht auf eine illusionistische Räumlichkeit zu finden. Aus der Gegenüberstellung der frühen und der späten Bilder läßt sich eine Entwicklung verdeutlichen, die ihn zu einer malerischen Reife führte.

1998, Ende Mai, sah sich Stefan Eisermann in der irdischen Liebe wieder einmal ge- scheitert. Die eben erfolgte Trennung schuf letzten Endes die Klarheit dafür, auf ei- nen neuen Anlauf zu verzichten. Ein wesentlicher Antrieb für seine Lebensenergie und -erhaltung war dadurch nun ohne Ziel. Dazu kam, daß sein unstetes Leben, der Alkoholismus, seine Gesundheit zerrüttet hatten. Kurz nach Pfingsten krakelte er am 2.6.1998 trunken »Gott – der Arsch« in seinen Kalender (21). Er fühlte sich allein, müde und unbeschützt. In dieser Trostlosigkeit richtete sich nunmehr sein Lästern gegen Gott, der augenscheinlich nie »SEIN Gott« geworden war. Jedoch unmittelbar nach dem Zorn folgte die Besinnung in Gestalt dreier Ausrufezeichen: »Versuch zu malen!!!«. Als hätte er »Das Jesus-Evangelium« von Norman Mailer (22) gelesen und daraus den Satz: »Es gab Werke zu verrichten, und sie konnten nicht auf den Knien getan werden.« verinnerlicht. Gottvertrauen hat Stefan Eisermann nie besessen. In- des hatte er die Fähigkeit erworben, seinem Œuvre zu vertrauen. Die Malhandlung und das »fast fertige« Bild – inzwischen die beiden überlebensnotwendigen Behaup- tungen des ICHs – kommen auch im letzten Lebensjahr ohne ein Glaubensbekenntnis aus. Selbst wenn in jenem Moment das Urteil dem Zustand des Bildes »Adam und Eva« galt. Das Bild wirkt wie ein profanes Votivbild, mit dem der Maler die endgültige Transzendenz eines Menschenpaares an und für sich verallgemeinert hat. »Bin froh das Klarheit da ist, und ich nun endlich nach vorne Blicken kann« resümierte er am 29. 8.1998 (23).

Nur einen Tag später beendete er eine Zeichnung. Auf der Seite, die er einem alten Haushaltsbuch entnommen hat, sieht man ein Paar. Der nüchterne Tabellenvordruck für die Eintragungen von Soll und Haben bildet den Fonds. Dreht man das Blatt um, steht geschrieben: »Nun kann ich endlich loslassen und hoffe für mich, es dauert nicht so lange.« Als man am 8. September in seinem Körper Krebs diagnostizierte, sah Stefan Eisermann keinen Sinn mehr, das Leben mit Hilfe von Chemotherapien oder anderen Methoden zu verlängern. Der Maler – des Lebens müde – wollte ster- ben. In seiner Wohnung erwartete er – umgeben von seinen Bildern – den Tod.

1 Bertolt Brecht, Baal, in: Bertolt Brecht, Stücke, Bd. 1, Berlin 1954, S. 68f.
2 Brechts erster, aber von ihm nie autorisierter Versuch, die Bibel zu dramatisieren, ist im »Baal« spürbar. Interessierte ihn als Schüler Jesus als historische Figur, läßt er seinen Baal gegen jeden Versuch der Vereinnahmung – auch den des Pfarrers, der es gut mit ihm meint – polemisieren. Der Dramatiker warnte in seinem Geleitwort vor der Anlage des Stücks. Die nachfolgenden Zitate Brechts sind dem Text »Bei Durchsicht meiner ersten Stücke« (wie Anm.1, S.8f.) entnommen: »Sie werden darin kaum etwas anderes als die Verherrlichung nackter Ichsucht erblicken […]. Es ist nicht zu sagen, wie Baal sich zu einer Verwertung seiner Talente stellen würde: er wehrt sich gegen ihre Verwurstung […]. Er ist asozial, aber in einer asozialen Gesellschaft.«
3 Am 12.6.1988 war die Premiere. Regie: Bernd Weißig, Bühnenbild: Frank Hänig. Michael Walke spielte den Baal, Annette Straube die Sophie.
4 Darüber hinausgehende Aufzeichnungen Eisermanns zum Stück bzw. zu seiner Beschäftigung mit der Hauptfigur sind nicht vorhanden.
5 »Sophie will halb gehen, sieht sich bei der Tür um; zu Baal, der sie, rittlings auf einem Stuhl sit- zend, ansieht:« Brecht, wie Anm.1, S.54
6 Bis in die 50er Jahre galt für deutsche Standesbeamte ein Erlaß aus dem »Dritten Reich«, wo- nach Personen, die keiner Religionsgemeinschaft zugeordnet werden konnten, als gottgläubig ein- zutragen waren.
7 Vgl.: Gertrud Warnke, Mein Leben. Biographie, Teil I, Kindertage, unveröffentlichtes Typoskript, S.25
8 Weiterführende Literaturhinweise: Gerhard Wolf, Albert Ebert. Wie ein Leben gemalt wird, Berlin 1974; Gerhard Wolf und Johannes Helm, Malgründe, Berlin 1978; Gerhard Holtz-Baumert und Paul Schultz-Liebisch, Die seltsame Zeit des Knaben Friedrich, Berlin 1978
9 Es verwundert nicht, daß die in seinem Nachlaß zu findende kulturgeschichtliche Darstellung des Herz-Symbols auch die runde Form berücksichtigt. Vgl.: J. C. Cooper, Illustriertes Lexikon der traditionellen Symbole, Leipzig 1986, S.76f., und vgl. zur Kreis-Symbolik (ebenfalls aus dem Nachlaß): Harald Braem und Christof Heil, Die Sprache der Formen, München 1990, S.84ff.
10 Ebenso ist die Faszination zu verstehen, mit der die Farbtheorie der Chakren-Lehre auf ihn ge- wirkt haben muß. Von Karsten Garbe – einem langjährigen Freund – 1991 damit vertraut gemacht, hob er sich dessen zeichnerische Darstellung auf, wie er sie 1997 minutiös in sein Skizzenbuch übertragen hat. Beide Dokumente befinden sich im Nachlaß des Künstlers.
11 Am Anfang stand 1975 das »gepflegte« Ritual, sich mit Hilfe der Attitüde und des genossenen Weines in einen anderen Bewußtseinszustand zu versetzen. Den Anstreichungen der im Nachlaß befindlichen Bosch-Monografie ist zu entnehmen, daß er sich mit Konzentrationsübungen wie Me- ditation beschäftigt hat. (Vgl. Wilhelm Fraenger, Bosch, Dresden, 1977, 2. Auflage, S.43) Eine Alternative zum Alkohol wurde daraus nie, obwohl er sich seit 1990 seiner Abhängigkeit bewußt war.
12 Stefan Eisermann war als Musikhörer kein Purist. Er war für Empfehlungen offen und rezipierte Musik vielerlei Art. Das ist den im Nachlaß befindlichen Video-Aufzeichnungen zu entnehmen, die während des Malens entstanden. Des weiteren verzeichnete er auf allen Tonträgern (Kassetten, LPs und CDs) von wem und in welchem Jahr er sie erhielt. In einem besonderen Fall reichte seine Verehrung für eine Band von 1975 bis zu seinem Tod. Es handelt sich um Pink Floyd, bei Amiga (Schallplattenbetrieb der DDR) erschienen 1978 »Dark side of the Moon« (EMI, 1975) und 1983 »Wish you where here« (EMI, 1978) als Lizenzplatten.
13 Ikonographisch deutet das Schneckenhaus auf sein nachhaltiges Interesse für Urformen hin, die im Spätwerk sein malerisches Alphabet bilden. (Im Nachlaß befindet sich ein Blatt mit Bleistift ausgeführter Schneckenstudien aus dem Jahr 1979)
14 Der Kalender befindet sich im Nachlaß. Seit 1996 mehren sich die Aufzeichnungen in seinen Kalendern, die er davor selten als Chronik verwendet hatte. Er notierte seither akribisch Erlebtes: den Beginn und das Ende jedes Tages, seinen Zustand und den seiner Bilder, die täglichen Statio- nen bzw. Reisen und Begegnungen bzw. Gespräche.
15 Seit 1982 bemühte sich Stefan Eisermann um die Möglichkeit, als Maler freiberuflich arbeiten zu können. Der längste Zeitraum der selbst gewählten Freiberuflichkeit als Maler dauerte vom 31.8.1989 bis 31.12.1992
16 Eisermann, der während der Lehrzeit auch auf einem Trawler gearbeitet hatte, sprach gern über das Leben auf See. Er war nicht tätowiert, hat aber den Anker als Symbol in vielen Bildern verwendet. Eine seiner liebsten, selbst gesungenen und endlos wiederholten Liedzeilen war »Cross the Sea«. (Vgl. Videoaufzeichnungen S. E. bei Annegret und Reiner Walkhöfer; im Nachlass)
17 Die feierliche Einweihung des Andachtsraumes wurde am 25.4.1995 durch Pfarrer Gerhard Rütenik vorgenommen, der auch die Bilder auswählte und sich maßgeblich für deren Ankauf ein- setzte.
18 »Stefan glaubte nicht und wußte es auch nicht, daß man aus tiefstem Leid herauswachsen kann.« Heidemarie Kiesow (Ehefrau von Max Kiesow und langjährige Freundin) an den Verfasser, Brief vom 16.1.2003
19 USA, 1995 (Regie: Jim Jarmusch; William Blake: Johnny Depp; Musik: Neil Young)
20 William Blake: Zwischen Feuer und Feuer, München 1996, S.134f.
21 Dieses und das folgende Zitat sind dem Kalender des Jahres 1998 entnommen.
22 Norman Mailer, Das Jesus-Evangelium, München 1998
23 Kalendernotiz desselben Tages.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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