Internet-Präsenz Stefan Eisermann: Andreas Hüneke über St. E.

   

 

 

 

 

 

 

 

 

 

[Hinweis]

 

 
 

 
Die Sonderwelt der Bilder

Selten läßt sich das Lebenswerk eines Künstlers zeitlich so genau umreißen wie bei Stefan Eisermann. Es umfaßt 24 Jahre (1), und sähe man Bilder Eisermanns von 1975 und 1998 unvorbereitet nebeneinander, käme man nicht auf den Gedanken, sie stammten von derselben Hand. Eine beachtliche Entwicklung hat sich in diesen Jah- ren vollzogen, von den naiven, noch zaghaften Bildchen im selbstgefertigten Suralin- rahmen bis zur souveränen malerischen Behandlung der späten Symbolbilder, von der Einbettung in einen Trend bis zur Freiheit des eigenständigen Ausdrucks. Erst durch die Arbeiten der letzten sieben Jahre gewinnt dieses Lebenswerk seine wahre Bedeu- tung. Und in ihrem Lichte wird dann allerdings auch das Besondere, das ganz eigen- tümliche Wesen der früheren Bilder leichter erkennbar. Denn natürlich gibt es einen persönlichen Charakter, eine individuelle »Handschrift«, die alle diese so unterschied- lich erscheinenden Werke übergreifen und zusammenschließen.

Zunächst freilich kann man sagen, daß Eisermann für das Experiment Kunst, in das er sich stürzte, Halt suchte. Ganz ohne Netz und doppelten Boden ging das nicht. Er hatte die Träger historischer Uniformen, für die er sich interessierte, aus Sperrholz ausgesägt und bemalt – eine eher reproduktive Arbeit, von deren erprobter Praxis er sich nicht zu weit entfernen wollte. So war der naive Malstil schon vorgegeben. Auch griff er anfangs öfter auf Photographien zurück, die formalen Halt boten, deren Figu- ren er gedanklich ausschneiden und im Bild zu neuen Konstellationen zusammenfügen konnte. Und lange noch hat er manche Menschen- oder Tiergestalten zunächst aus Papier ausgeschnitten, um ihre Form schon vor dem Malvorgang zu definieren und ih- nen leichter den rechten Platz auf der Bildfläche zuweisen zu können, wo sie dann malerisch oder als Collage fixiert wurden.
Auf die Suche nach Sicherheit in dem Medium deutet auch die von Eisermann oft ge- übte Praxis, alle für ein Bild vorgesehenen Farbnuancen im Vorhinein auf der Palette auszumischen (2). Spontaneität und Zufall im Malvorgang hat er erst viel später zu- gelassen.

Gerade als Eisermann zu malen begann, 1975, erschien der dritte Band des »Lexikons der Kunst«, in dem die naive Malerei weitgehend treffend definiert wird: »Selbstge- lebtes und selbsterträumtes Leben spricht aus jedem Bild. […] Leichter, oft ungewoll- ter Humor ist ebenso charakteristisch wie großer Ernst der Auffassung bei aller ›Un- geschicklichkeit‹ in der nach Vollendung strebenden Formgebung.« (3) Dennoch bleibt eine leichte Distanz zu dieser zwar verständlichen, »realistischen« und volks- tümlichen, aber für den Sozialismus nicht einfach zu vereinnahmenden Kunst in dem Artikel spürbar. Klaus Freese und Michael Hametner – Freunde und Bewunderer Eiser- manns aus seiner ersten Schaffensphase – haben beschrieben, wie die naive Malerei für sie damals etwas bot, was der Gesellschaft fehlte (4). »Eine große Erweiterung« nennt es Freese, »Innerlichkeit« und »Spiritualität«. Es mag auch eben das »Naive« gewesen sein, das Unmittelbare, Direkte, Unverstellte, absolut Ehrliche, das dieser Kunst eigen war, wodurch sie für viele zur Alternative, zur geliebten Gegenwelt wur- de. Bücher und Ausstellungen über naive Kunst hatten Konjunktur. Es war keine gro- ße, gar beherrschende Strömung, aber doch eine spürbare. Eisermanns Bilder weisen alle Merkmale auf, die sie ihr zuordnen. Er malte sein eigenes Leben und das seiner Umgebung in märchenhafter Verklärung, mit deutlichem – in Eisermanns Fall bewuß- tem – Humor und oft auch durchaus gesellschaftskritischem Witz. Perspektive und Anatomie wirken liebenswürdig »ungeschickt«. Dennoch sind der große Ernst des An- liegens und ein Streben nach Vollkommenheit erkennbar. Tatsächlich sind die Bilder meist klar komponiert, die Farben differenziert und wirkungsvoll eingesetzt; sie sind dekorativ.

Oft ist das Dekorative als eine Tendenz zum Kunstgewerblichen abfällig betrachtet worden. Aber es hat eine ehrenvolle Tradition durch die Jahrhunderte. In der naiven Malerei wird es oft – wie bei Eisermann – durch eine gewisse ornamentale Auffassung befördert. Dieser ornamentale Charakter entsteht durch die regelmäßige oder rhyth- mische Wiederholung bestimmter Formelemente, was für die naive Malerei gerade bei der Darstellung von Bäumen und Blättern charakteristisch ist. Die Baumreihe in Rot- orange auf Eisermanns Gemälde »Rostock mit Käptn Brass« ist typisch dafür. Gerade auf diesem Bild sind noch zwei weitere Baumformen anzutreffen. Hametner hat in ei- nem kleinen Text zu Eisermanns erster Ausstellung zu Recht besonders auf die Bäume hingewiesen: »Betrachten Sie nur einmal in allen Bildern die vorkommenden Bäume! […] Welch eine Phantasie, welch ein Ideenreichtum, welch eine Empfindung und Sen- sibilität gehören dazu, allein diese Bäume zu malen! Welche Freude sind sie für uns, die sie auf seinen Bildern betrachten.« (5) Bei aller Schematisierung und Abstraktion werden Eisermanns Bilder doch nie stereotyp. Immer wieder auch von unmittelbarer Beobachtung gespeist, sind sie stets für überraschende Lösungen offen.

Von solcher Naturbeobachtung zeugen die Bäume im Vordergrund des erwähnten Bil- des, die durch ihren besonderen Formcharakter deutlich als Birken erkennbar sind. Dabei bleibt alles Impressive ausgeschlossen. So sehr die Bilder persönliches Erleben widerspiegeln oder kommentieren, so wenig sind sie doch schnappschußartige Aus- schnitte aus der umgebenden Welt. Vielmehr kann man sie als Komposition oder Kon- struktion einer »Sonderwelt« betrachten, die ein Gleichnis für die tatsächliche, reale Welt darstellt. Diesen gleichnishaften Charakter betonte Eisermann schon bald durch symbolhafte Formfindungen. Hametner deutete – sicher im Einverständnis mit dem Künstler – die nackten Brüste der Kommissionsdamen und die Papageien auf dem Bild »Die Schiedskommission« als Symbole menschlicher Verhaltensweisen – des sich Ent- blößens und des Nachplapperns (6). Die Erzählungen des Käptn Brass vor den be- wundernden Kindern in der kleinen Idylle mit den Spielzeughäusern – als Backstein- gotik und Plattenneubau unterschieden – handeln von der großen weiten Welt und biegen den Horizont zum Ausschnitt aus dem Globus. Das Gewässer bekommt da- durch eine merkwürdige Zwitterstellung zwischen Teich und Weltmeer, wie sie für die Ostsee – von Rostock aus gesehen – damals durchaus zutraf.

Auch solche Verbindung einer eng begrenzten Idylle mit menschheitlichen oder globa- len Gedanken ist für weite Bereiche der naiven Kunst kennzeichnend. Das Persönliche wird mit dem Allgemeinen verbunden, es wird über die eigenen Grenzen hinausgeho- ben und erhält eine höhere Bedeutung. Der Zoobesuch wird zum Gleichnis vom Para- dies. Auf einem roten Weg sind die betrachtenden Besucher von der grünen Land- schaft ausgenommen, in der sich die Tiere, zwar weitgehend nach Arten getrennt, aber doch ohne nennenswerte Hindernisse zwischen Raubkatzen und Hirschen, Bären und Stelzvögeln, friedlich aufhalten. Man denkt auch bei den Tierdarstellungen an die Paradiesbilder der frühen Niederländer. Und tatsächlich ist die Giraffe offensichtlich der linken Innentafel mit dem »Garten Eden« aus Hieronymus Boschs Altarbild »Das tausendjährige Reich« entnommen (7). Die Übereinstimmung ist bis auf die Farbe und das rechte Hinterbein in allen Einzelheiten zu verfolgen. Schon in dieser frühen Zeit bezog sich Eisermann also nicht nur auf die ihn umgebende Realität, auf photogra- phische Vorlagen und seine Phantasie, sondern gelegentlich auch auf überlieferte Kunstwerke, auf mythologische Themen (8)  oder auch auf literarische Werke. Damit deutet sich ein künstlerisches Wollen an, das auf die Dauer nicht in den Grenzen nai- ver Malerei zufriedenzustellen war.

1979 entstand das Gemälde »Abschied von Matjora« nach einem erst drei Jahre älte- ren und soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Werk des russischen Schrift- stellers Valentin Rasputin, in dem die Gefährdung von Mensch und Natur durch den industriellen »Fortschritt« am Beispiel eines sibirischen Dorfes beschrieben wird, das einem neuen Stausee zum Opfer fällt. Die Frau mit dem Kopftuch im Vordergrund von Eisermanns Bild möchte das ganze Land umarmen. Aber vielleicht zieht sie auch selbst das blaue Tuch der Erinnerung behutsam über die Häuser. Es ist eins der Ge- mälde, bei denen Eisermann die ihm von Hernando Leon empfohlene Knoblauch- grundierung ausprobiert hat. Dadurch entsteht eine besondere Zartheit und Immate- rialität der Lasuren, und gleichzeitig ergibt sich eine großzügigere Formgebung. Es sind die ersten Schritte der Loslösung von der naiven Kunstform, die Eisermann schon bald, nachdem er Kontakt mit »professionellen« Künstlern aufgenommen hatte, gelangen. Dazu gehört auch die im Sommer des gleichen Jahres in Hirschburg ent- standene Collage aus verschiedenen Papierarten. Er reagierte damit spontan auf die Arbeitsweise anderer anwesender Künstler. Und diese Spontaneität kennzeichnet das ganze Blatt, das nichts mehr mit naiver Kunst zu tun hat. Befriedigt und mit einem gewissen Stolz notierte er auf der Rückseite: »Haase war da – hat ihm gefallen.« (9)

Doch blieb diese Arbeit lange Zeit ein absoluter Sonderfall. Erst in seinem Spätwerk griff Eisermann wieder die Collage-Technik auf, um sie wie selbstverständlich in seine Malereien einzubeziehen. Lange noch war der naive Grundcharakter in Eisermanns Schaffen vorherrschend. Wie bei der Collage gab es von Zeit zu Zeit Einzelarbeiten, die schlaglichtartig einen neuen Horizont aufrissen, der dann erst Jahre später ge- nauer in den Blick genommen wurde. Und allmählich entstand eine etwas großzügige- re Malweise mit einer leicht expressiven Tendenz. Aber erst in Potsdam erfolgte ab 1986 die endgültige Lösung aus der ersten Schaffensphase.

Mit der Ausstellung »Expressionisten. Die Avantgarde in Deutschland 1905–1920« in der Ostberliner Nationalgalerie im Herbst 1986 rückte der Expressionismus erstmals in größerem Umfang in das Bewußtsein der Öffentlichkeit in der DDR. Der im Westteil der Stadt sich seit 1977 manifestierende neuexpressionistische Stil der Jungen Wil- den griff bald auch auf die DDR über und schuf ein Gegengewicht zur bis dahin favo- risierten Tradition der Neuen Sachlichkeit. Eisermann befand sich, als er sich dem expressiven Stil näherte, wiederum in einem Trend. Diesmal war es eine breite Haupt- strömung. Das Gemälde »Der Falschspieler« belegt noch den Übergang, wie er sich bereits im Frühjahr 1986 andeutete, vor dem Erlebnis der Kunst Kosztka Csontvárys während des Sommeraufenthalts in Ungarn und vor dem Besuch der Expressionisten-Ausstellung, von denen diese Entwicklung dann allerdings befördert wurde. Die Land- schaft selbst könnte von den Murnauer Bildern Wassily Kandinskys und Alexej von Jawlenskys inspiriert worden sein (10). Die Form der Berge, aber auch die ganz an- dere Vereinfachung der Baumreihe als auf den naiven Bildern, weisen darauf hin. Allerdings ist der ornamentale Charakter stärker als bei den beiden Russen, und über der Landschaft liegen noch zwei andersgeartete Schichten. Zu der einen gehört der halbnackte Mann, der – wenn man die obere Bildhälfte abdeckt – in südlicher Sonne unter Palmen auf einem Badelaken zu liegen scheint. Ein roter Vogel flüstert ihm von der Palme herab etwas ins Ohr. Die Figur ist durchaus noch in naiver Manier ge- halten. Mit den ausgebreiteten Armen gemahnt sie auch an einen Gekreuzigten. Als dritte Schicht durchziehen das Bild verschiedene Farbstreifen – hellgelb, in drei Blau- tönen, und rot –, teilweise mit kleinen Kreisen und Nummern versehen. Man denkt an den Plan für ein Würfelspiel oder auch an eine Wanderkarte mit markierten Stationen.

Nach der Erprobung eines expressiven, »wilden« Farbauftrags im Jahr 1987 setzte sich für vier Jahre eine stark von der schwarzen Zeichnung bestimmte Bildgestaltung durch, die in manchem an die Zeichnungen Ernst Ludwig Kirchners aus seiner Berliner Zeit von 1911 bis 1914 erinnert. 1988 hat sich das eben beschriebene Bildmotiv in diesem Sinne gewandelt. Der Liegende ist zum Drachen geworden (WV 271). Der Vo- gel, in der alten Symbolik ein Begleiter des Drachentöters, hat sich von ihm abge- wandt. Zwei Wochen später entstand Eisermanns erste Darstellung des heiligen Georg, des Drachentöters.

Von den expressionistischen Vorbildern unterscheiden sich Eisermanns Arbeiten auch in dieser Phase unter anderem durch ihren meist ornamentalen Charakter, der sich häufig in symmetrischen Kompositionen und Baumreihungen oder in aufgereihten Figuren und in wachsendem Maße auch in gemalten Rahmungen ausspricht. Zirkus- und Indianerbilder sind dabei bevorzugte Themen. Interessant ist gerade der Ver- gleich zwischen zwei Bildern gleichen Themas. 1990 entstand wieder eines mit dem Titel »Im Zoo«, jedoch ist jetzt nicht mehr der Traum vom Paradies dargestellt. Vorn wird in einem schilfumstandenen Teich anscheinend ein Mensch von einem Krokodil zerfleischt. Liebevoll aneinandergeschmiegte Paare blicken lächelnd auf die Szene herab. Die Figuren links und rechts scheinen ebenfalls Tiere zu sein und sind – wie die Menschen – in Einzelkäfigen separiert. Alles ist geheimnisvoll – friedlich und be- drohlich zugleich, nicht mehr das Paradies des Friedens, sondern das Paradies, in dem das Schrecklichste geschieht. Dazu ist alles von zwei Randstreifen und einem Ornamentband oben eingefaßt. Von 1986 bis 1989 arbeitete Eisermann als Requi- siteur am Potsdamer Theater, und das andersartige, intensive Erlebnis der Guckkas- tenbühne hat sich offensichtlich auf seine Kunst ausgewirkt. »In die Sonderwelt der Bühne oder des Bildes gestellt, wird der Mensch zum raumbehexten Wesen«, schrieb Oskar Schlemmer.(11) Nun hat gewiß Eisermanns Malerei mit der Schlemmers nichts gemein. Aber das Verständnis des Bildes als einer der Bühne verwandten Sonderwelt, in der alle Dinge, jedes Geschehnis, jede Geste, jede Farbe, jedes Zeichen eine über das Alltägliche hinausreichende Bedeutung erhalten, finden wir auch bei Eisermann. Und eigentlich ist es, wie sich nun feststellen läßt, von Anfang an für seine Bilder be- stimmend gewesen. Jetzt fand es, über die bewußte Komposition hinaus, oft in der bühnenartigen Rahmung des Bildmotivs eine adäquate Form.

Die Malweise Eisermanns wandelte sich nicht gleichzeitig mit der grundsätzlichen Ver- änderung der allgemeinen Lebensbedingungen 1989/90. Weiterhin herrschten die schwarzen Linienbündel und Schraffuren, verbunden mit einer überwiegend dunklen Farbigkeit vor. 1991 wurden die Formen flächiger und die Motive archaischer, aber noch immer blieb der Gesamteindruck dunkel-verhalten. Erst nach der New York-Rei- se 1992 scheinen sich durch das quirlige Leben dieser Metropole Schleusen geöffnet zu haben, durch die kräftige, heitere Farben sprudelten. Gleichzeitig verfestigten sich geometrische Formen und schufen feste Bildgerüste, wie sie erstmals in den Bildern von Manhattan formuliert wurden. Die Turmhochhäuser sind wieder wie Spielzeug aufgereiht, bestimmen aber formatfüllend die Struktur des Bildes.

Ein zweites neues Motiv wurde in dieser Zeit aufgenommen: die Herzform. Es war ei- ne Reaktion auf den Aufkleber »Ein Herz für Kinder«, der viele Autos zierte und von Eisermann als entleertes Symbol empfunden wurde, als heuchlerisch appliziertes Zei- chen, das oft genug ganz andere Interessen und egoistische Rücksichtslosigkeit not- dürftig verdecken sollte. Er setzte sich das ehrgeizige Ziel, dieses triviale Symbol wieder mit einem tief reichenden Gehalt zu verbinden, es zum Ausdruck menschlicher Verletzbarkeit und wahrhaftiger Liebe zu führen (12). Wie gefahrvoll diese Gratwan- derung war, zeigt schon die Reaktion der Kunstkritik, als die Herzbilder 1994 erstmals ausgestellt wurden: »Doch insgesamt bleibt die Ausstellung eher konventionell und manchmal wird es auch nahezu kitschig, wenn man z.B. an den Bilderzyklus mit den leuchtend-roten Herzen denkt.« (13)
Die Verwendung des Herzsymbols ist in der Kunst des 20. Jahrhunderts nicht ohne Beispiel. Häufiger finden wir es unter anderem in den Werken Paul Klees, aber auch bei dessen jüngerem Freund, dem ab 1928 in Paris tätigen Maler Hans Reichel. Beiden ist es dabei gelungen, jede Trivialität zu vermeiden. Aber wohl keiner, der diese Ziele hatte, hat das Herz zum hauptsächlichen oder gar alleinigen, fast formatfüllenden Motiv gemacht, wie Eisermann. In vielem aber scheint er mir Hans Reichel verwandt zu sein, der sich – ebenfalls Autodidakt – bis an sein Lebensende die Naivität eines unmittelbaren, unverstellten Gefühls bewahrt hat. Eine solche Naivität des Empfin- dens, vermittelt durch die expressive Farbigkeit der Bilder, verhinderte den Absturz Eisermanns in den Kitsch und ließ den Künstler sein hoch gestecktes Ziel erreichen – das sich dann doch auch als Weg zu weiteren Zielen offenbarte.

Die zwei Motive – Haus und Herz – dominierten für mehrere Jahre in seinem Werk, einzeln und miteinander kombiniert. Andere Symbole traten hinzu, wie die Spirale oder das Auge. Das Haus wird manchmal zum Schloß mit seitlichen Türmen oder mit Sei- ten- und Mittelrisalit, das Herz zum Herz-Blatt oder zum flammenden Herzen unterm Kreuz (WV 501), einem Symbol ganz und gar christlichen Ursprungs, das Frömmigkeit und Hingabe verkörpert (14). Eine ungeheure Fülle symbolischer Ausdrucksvarianten breitet sich in diesen Werken aus. Eisermanns Malweise wurde bei aller dekorativen und ornamentalen Formenstrenge immer freier. Teilweise mit Collagetechniken ver- bunden, gelangte er zu einer sehr lebendigen materialfühligen Bildhaut in spannenden Kontrasten.

Selbst diese symbolische Welt blieb für Eisermann erzählerisch, und sie wurde weiter- hin in die Guckkastenbühne einer ornamentalen Rahmung gestellt. 1994 entstand eine Reihe von »Schießscheibenbildern«. Schießscheiben für Schützenfeste waren eine traditionelle Aufgabe für volkstümliche, naive Malerei. Eisermanns »Schießscheiben- bilder« sind farblich besonders differenziert und harmonisch, von fast pastellhafter Zartheit. In den Titeln konfrontiert er jeweils den erteilten Befehl mit seinem Ergeb- nis. Damit rücken die Bilder vom zivilen Schützenfest in den militärischen Bereich. Aber der Befehl »gezieltes Feuer« erreicht nur »gestreute Einschüsse«. Unter dem Zeichen der Herzen in den Dächern des schloßartigen Gebäudes wird am Ziel vorbei- geschossen, und die Einschüsse mutieren zu Streublümchen. Bei der jetzt oft flä- chendeckend ornamentalen Bildauffassung mußte Eisermann eigentlich ein beson- deres Interesse für das Werk von Henri Matisse entwickeln. Seine Reaktion darauf mit dem Bild »Der letzte Tanz« von 1995 vernachlässigt aber diese bei zahlreichen Werken des Franzosen so hervorstechende Eigenschaft. Es ist eine echte Metamor- phose der Matiss’schen Tanzmotive, mit der sich Eisermann von formalen Einflüssen vollkommen frei hielt. Gerade darin zeigt sich die jetzt gewonnene Sicherheit und Ei- genständigkeit, die keines fremden Haltes mehr bedurfte, auch wenn dadurch Zweifel und Unzufriedenheit nicht verschwunden waren.

Eine letzte Wandlung – vielleicht nur eine Steigerung – des Malstils deutete sich 1997 durch ein immer stärkeres Aufreißen der Farbflächen und eine expressive Locke- rung der Pinselführung an. Freilich lassen sich immer nur Tendenzen beschreiben, denn das Werk Eisermanns ist nie eingleisig. Durch alle Jahre wird es von Arbeiten begleitet, auf die das Gesagte nicht oder nur teilweise zutrifft, die »Ausnahmen« darstellen, wie der bildgewordene Grundriß seiner letzten Wohnung in der Tuchma- cherstraße in Potsdam-Babelsberg. Und dennoch ist es immer wieder Stefan Eiser- mann, der uns in jedem dieser Bilder gegenübertritt. Jedes von ihnen wirft ein eige- nes Licht auf ihren Schöpfer, der sich aber doch erst in der Zusammenschau aller – von den ersten bis zu den letzten – weitgehend zu erkennen gibt.

Die Schwierigkeiten und Probleme seines letzten Lebensjahres – zwischenmenschli- cher und gesundheitlicher Natur – haben das Entstehen einer großen Reihe außer- ordentlicher Kunstwerke nicht beeinträchtigen können. In ihnen hat er alle Zag- haftigkeit abgelegt. Der noch immer mühsame Kampf um die Form wird von den Ele- menten des Zufalls und der Spontaneität versteckt, wie auch ihre Symbolik sich wie- der etwas verbirgt. So werden sie gleichzeitig lockerer und gewichtiger. Die Erfahrun- gen aller Schaffensperioden vereinigen sich wie selbstverständlich. Bewegte Land- schaft und Figur sind in ihnen ebenso zu Hause wie Geometrie und Ornament, die na- ive, märchenhafte Erzählung, der expressive Ausdruck, das verallgemeinernde Sym- bol. In vielen dieser Bilder taucht ein großer roter Fleck auf, oft ohne Kontur und da- her nicht als Kreis zu bezeichnen. Gelegentlich ist dieser rote Fleck als untergehende Sonne definiert, meist aber ist er als symbolische Form zu definieren. In der tradi- tionellen Symbolik verweist die Sonne auch auf das Herz. Beide sind Zentrum des Le- bens, ja des Makrokosmos und des Mikrokosmos. Himmel und Mensch treffen in ihnen zusammen, und es manifestiert sich transzendente Intelligenz und Weisheit. Sie scheint sich auch darin zu zeigen, daß der zu kurze künstlerische Weg Stefan Eiser- manns einen gültigen Abschluß gefunden hat.

 

1 Ein Porträt des Friedrich Wilhelm von Seydlitz, das im Januar 1974 entstand, gehört sachlich noch zu den Laubsägearbeiten. Die erste davon unabhängige Malerei ist der »Mann mit Zylinder, Fragezeichen und Kerze« vom 18. Dezember 1974.
2 Berichtet von Harry Mohr
3 Lexikon der Kunst, Bd. 3, Leipzig 1975, S.488–489
4 Vgl. die biographischen Notizen zum Jahr 1978
5 Michael Hametner, Über die Bilder Stefan Eisermanns, Eröffnungsrede, Typoskript im Nachlaß des Künstlers.
6 Wie Anm. 5
7 Die 1977 in Dresden erschienene 2. Auflage des großen Buches über Hieronymus Bosch von Wil- helm Fraenger befand sich in Eisermanns Besitz und weist Spuren häufiger Benutzung auf.
8 Vgl. den Text von Thomas Kumlehn
9 Zu Jürgen Gustav Haase vgl. die biographischen Notizen zum Jahr 1979
10 Solche Landschaften waren im Herbst 1986 in Berlin innerhalb der DDR erstmals im Original zu sehen. Es gab aber Reproduktionen, z.B. in dem von mir herausgegebenen, 1986 in Leipzig in er- ster Auflage erschienenen Band »Der Blaue Reiter. Dokumente einer geistigen Bewegung«.
11 Vgl. Oskar Schlemmer, Neue Formen der Bühne, in: Schünemanns Monatshefte 1928, H. 10, S.1062–1072
12 Eisermann berichtete darüber sowohl Erik Bruinenberg als auch Berit Grötz.
13 Frank Jast, Kraftvoll, kitschig und konventionell, in: Potsdamer Neueste Nachrichten, 5.7.1994
14 Vgl. zur religiösen Thematik im Werk Eisermanns den Text von Thomas Kumlehn

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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