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Die Sonderwelt der Bilder
Selten läßt sich das Lebenswerk eines Künstlers zeitlich so genau umreißen
wie bei Stefan Eisermann. Es umfaßt 24 Jahre (1), und sähe man Bilder
Eisermanns von 1975 und 1998 unvorbereitet nebeneinander, käme man nicht auf
den Gedanken, sie stammten von derselben Hand. Eine beachtliche Entwicklung
hat sich in diesen Jah- ren vollzogen, von den naiven, noch zaghaften Bildchen
im selbstgefertigten Suralin- rahmen bis zur souveränen malerischen Behandlung
der späten Symbolbilder, von der Einbettung in einen Trend bis zur Freiheit
des eigenständigen Ausdrucks. Erst durch die Arbeiten der letzten sieben
Jahre gewinnt dieses Lebenswerk seine wahre Bedeu- tung. Und in ihrem Lichte
wird dann allerdings auch das Besondere, das ganz eigen- tümliche Wesen der
früheren Bilder leichter erkennbar. Denn natürlich gibt es einen
persönlichen Charakter, eine individuelle »Handschrift«, die alle diese so
unterschied- lich erscheinenden Werke übergreifen und zusammenschließen.
Zunächst freilich kann man sagen, daß Eisermann für das Experiment Kunst,
in das er sich stürzte, Halt suchte. Ganz ohne Netz und doppelten Boden ging
das nicht. Er hatte die Träger historischer Uniformen, für die er sich
interessierte, aus Sperrholz ausgesägt und bemalt – eine eher reproduktive
Arbeit, von deren erprobter Praxis er sich nicht zu weit entfernen wollte.
So war der naive Malstil schon vorgegeben. Auch griff er anfangs öfter auf
Photographien zurück, die formalen Halt boten, deren Figu- ren er gedanklich
ausschneiden und im Bild zu neuen Konstellationen zusammenfügen konnte. Und
lange noch hat er manche Menschen- oder Tiergestalten zunächst aus Papier
ausgeschnitten, um ihre Form schon vor dem Malvorgang zu definieren und
ih- nen leichter den rechten Platz auf der Bildfläche zuweisen zu können, wo
sie dann malerisch oder als Collage fixiert wurden.
Auf die Suche nach Sicherheit in dem Medium deutet auch die von Eisermann
oft ge- übte Praxis, alle für ein Bild vorgesehenen Farbnuancen im Vorhinein
auf der Palette auszumischen (2). Spontaneität und Zufall im Malvorgang hat
er erst viel später zu- gelassen.
Gerade als Eisermann zu malen begann, 1975, erschien der dritte Band des
»Lexikons der Kunst«, in dem die naive Malerei weitgehend treffend definiert
wird: »Selbstge- lebtes und selbsterträumtes Leben spricht aus jedem Bild. […]
Leichter, oft ungewoll- ter Humor ist ebenso charakteristisch wie großer Ernst
der Auffassung bei aller ›Un- geschicklichkeit‹ in der nach Vollendung
strebenden Formgebung.« (3) Dennoch bleibt eine leichte Distanz zu dieser
zwar verständlichen, »realistischen« und volks- tümlichen, aber für den
Sozialismus nicht einfach zu vereinnahmenden Kunst in dem Artikel spürbar.
Klaus Freese und Michael Hametner – Freunde und Bewunderer Eiser- manns aus
seiner ersten Schaffensphase – haben beschrieben, wie die naive Malerei für
sie damals etwas bot, was der Gesellschaft fehlte (4). »Eine große
Erweiterung« nennt es Freese, »Innerlichkeit« und »Spiritualität«. Es mag
auch eben das »Naive« gewesen sein, das Unmittelbare, Direkte, Unverstellte,
absolut Ehrliche, das dieser Kunst eigen war, wodurch sie für viele zur
Alternative, zur geliebten Gegenwelt wur- de. Bücher und Ausstellungen über
naive Kunst hatten Konjunktur. Es war keine gro- ße, gar beherrschende
Strömung, aber doch eine spürbare. Eisermanns Bilder weisen alle Merkmale
auf, die sie ihr zuordnen. Er malte sein eigenes Leben und das seiner
Umgebung in märchenhafter Verklärung, mit deutlichem – in Eisermanns Fall
bewuß- tem – Humor und oft auch durchaus gesellschaftskritischem Witz.
Perspektive und Anatomie wirken liebenswürdig »ungeschickt«. Dennoch sind
der große Ernst des An- liegens und ein Streben nach Vollkommenheit erkennbar.
Tatsächlich sind die Bilder meist klar komponiert, die Farben differenziert
und wirkungsvoll eingesetzt; sie sind dekorativ.
Oft ist das Dekorative als eine Tendenz zum Kunstgewerblichen abfällig
betrachtet worden. Aber es hat eine ehrenvolle Tradition durch die
Jahrhunderte. In der naiven Malerei wird es oft – wie bei Eisermann – durch
eine gewisse ornamentale Auffassung befördert. Dieser ornamentale Charakter
entsteht durch die regelmäßige oder rhyth- mische Wiederholung bestimmter
Formelemente, was für die naive Malerei gerade bei der Darstellung von
Bäumen und Blättern charakteristisch ist. Die Baumreihe in Rot- orange auf Eisermanns
Gemälde »Rostock mit Käptn Brass«
ist typisch dafür. Gerade auf diesem Bild sind noch zwei weitere Baumformen
anzutreffen. Hametner hat in ei- nem kleinen Text zu Eisermanns erster
Ausstellung zu Recht besonders auf die Bäume hingewiesen: »Betrachten Sie
nur einmal in allen Bildern die vorkommenden Bäume! […] Welch eine
Phantasie, welch ein Ideenreichtum, welch eine Empfindung und Sen- sibilität
gehören dazu, allein diese Bäume zu malen! Welche Freude sind sie für uns,
die sie auf seinen Bildern betrachten.« (5) Bei aller Schematisierung und
Abstraktion werden Eisermanns Bilder doch nie stereotyp. Immer wieder auch
von unmittelbarer Beobachtung gespeist, sind sie stets für überraschende
Lösungen offen.
Von solcher Naturbeobachtung zeugen die Bäume im Vordergrund des erwähnten
Bil- des, die durch ihren besonderen Formcharakter deutlich als Birken
erkennbar sind. Dabei bleibt alles Impressive ausgeschlossen. So sehr die
Bilder persönliches Erleben widerspiegeln oder kommentieren, so wenig sind
sie doch schnappschußartige Aus- schnitte aus der umgebenden Welt. Vielmehr
kann man sie als Komposition oder Kon- struktion einer »Sonderwelt«
betrachten, die ein Gleichnis für die tatsächliche, reale Welt darstellt.
Diesen gleichnishaften Charakter betonte Eisermann schon bald durch
symbolhafte Formfindungen. Hametner deutete – sicher im Einverständnis mit
dem Künstler – die nackten Brüste der Kommissionsdamen und die Papageien auf
dem Bild »Die Schiedskommission« als Symbole menschlicher Verhaltensweisen –
des sich Ent- blößens und des Nachplapperns (6). Die Erzählungen des Käptn
Brass vor den be- wundernden Kindern in der kleinen Idylle mit den
Spielzeughäusern – als Backstein- gotik und Plattenneubau unterschieden –
handeln von der großen weiten Welt und biegen den Horizont zum Ausschnitt
aus dem Globus. Das Gewässer bekommt da- durch eine merkwürdige
Zwitterstellung zwischen Teich und Weltmeer, wie sie für die Ostsee – von
Rostock aus gesehen – damals durchaus zutraf.
Auch solche Verbindung einer eng begrenzten Idylle mit menschheitlichen
oder globa- len Gedanken ist für weite Bereiche der naiven Kunst
kennzeichnend. Das Persönliche wird mit dem Allgemeinen verbunden, es wird
über die eigenen Grenzen hinausgeho- ben und erhält eine höhere Bedeutung. Der
Zoobesuch wird zum Gleichnis vom Para- dies. Auf einem roten Weg sind die
betrachtenden Besucher von der grünen Land- schaft ausgenommen, in der sich
die Tiere, zwar weitgehend nach Arten getrennt, aber doch ohne nennenswerte
Hindernisse zwischen Raubkatzen und Hirschen, Bären und Stelzvögeln,
friedlich aufhalten. Man denkt auch bei den Tierdarstellungen an die
Paradiesbilder der frühen Niederländer. Und tatsächlich ist die Giraffe
offensichtlich der linken Innentafel mit dem »Garten Eden« aus Hieronymus
Boschs Altarbild »Das tausendjährige Reich« entnommen (7). Die
Übereinstimmung ist bis auf die Farbe und das rechte Hinterbein in allen
Einzelheiten zu verfolgen. Schon in dieser frühen Zeit bezog sich Eisermann
also nicht nur auf die ihn umgebende Realität, auf photogra- phische Vorlagen
und seine Phantasie, sondern gelegentlich auch auf überlieferte Kunstwerke,
auf mythologische Themen (8) oder auch auf literarische Werke. Damit deutet
sich ein künstlerisches Wollen an, das auf die Dauer nicht in den Grenzen
nai- ver Malerei zufriedenzustellen war.
1979 entstand das Gemälde »Abschied von Matjora« nach einem erst drei Jahre
älte- ren und soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Werk des russischen
Schrift- stellers Valentin Rasputin, in dem die Gefährdung von Mensch und
Natur durch den industriellen »Fortschritt« am Beispiel eines sibirischen
Dorfes beschrieben wird, das einem neuen Stausee zum Opfer fällt. Die Frau
mit dem Kopftuch im Vordergrund von Eisermanns Bild möchte das ganze Land
umarmen. Aber vielleicht zieht sie auch selbst das blaue Tuch der Erinnerung
behutsam über die Häuser. Es ist eins der Ge- mälde, bei denen Eisermann die
ihm von Hernando Leon empfohlene Knoblauch- grundierung ausprobiert hat.
Dadurch entsteht eine besondere Zartheit und Immate- rialität der Lasuren, und
gleichzeitig ergibt sich eine großzügigere Formgebung. Es sind die ersten
Schritte der Loslösung von der naiven Kunstform, die Eisermann schon bald,
nachdem er Kontakt mit »professionellen« Künstlern aufgenommen hatte,
gelangen. Dazu gehört auch die im Sommer des gleichen Jahres in Hirschburg
ent- standene Collage aus verschiedenen Papierarten. Er reagierte damit
spontan auf die Arbeitsweise anderer anwesender Künstler. Und diese
Spontaneität kennzeichnet das ganze Blatt, das nichts mehr mit naiver Kunst
zu tun hat. Befriedigt und mit einem gewissen Stolz notierte er auf der
Rückseite: »Haase war da – hat ihm gefallen.« (9)
Doch blieb diese Arbeit
lange Zeit ein absoluter Sonderfall. Erst in seinem Spätwerk griff Eisermann
wieder die Collage-Technik auf, um sie wie selbstverständlich in seine
Malereien einzubeziehen. Lange noch war der naive Grundcharakter in Eisermanns Schaffen vorherrschend. Wie bei der Collage gab es von Zeit zu
Zeit Einzelarbeiten, die schlaglichtartig einen neuen Horizont aufrissen,
der dann erst Jahre später ge- nauer in den Blick genommen wurde. Und
allmählich entstand eine etwas großzügige- re Malweise mit einer leicht
expressiven Tendenz. Aber erst in Potsdam erfolgte ab 1986 die endgültige
Lösung aus der ersten Schaffensphase.
Mit der Ausstellung »Expressionisten. Die Avantgarde in Deutschland
1905–1920«
in der Ostberliner Nationalgalerie im Herbst 1986 rückte der
Expressionismus erstmals in größerem Umfang in das Bewußtsein der
Öffentlichkeit in der DDR. Der im Westteil der Stadt sich seit 1977
manifestierende neuexpressionistische Stil der Jungen Wil- den griff bald auch
auf die DDR über und schuf ein Gegengewicht zur bis dahin favo- risierten
Tradition der Neuen Sachlichkeit. Eisermann befand sich, als er sich dem
expressiven Stil näherte, wiederum in einem Trend. Diesmal war es eine
breite Haupt- strömung. Das Gemälde »Der Falschspieler« belegt noch den
Übergang, wie er sich bereits im Frühjahr 1986 andeutete, vor dem Erlebnis
der Kunst Kosztka Csontvárys während des Sommeraufenthalts in Ungarn und vor
dem Besuch der Expressionisten-Ausstellung, von denen diese Entwicklung dann
allerdings befördert wurde. Die Land- schaft selbst könnte von den Murnauer
Bildern Wassily Kandinskys und Alexej von Jawlenskys inspiriert worden sein
(10). Die Form der Berge, aber auch die ganz an- dere Vereinfachung der
Baumreihe als auf den naiven Bildern, weisen darauf hin. Allerdings ist der
ornamentale Charakter stärker als bei den beiden Russen, und über der
Landschaft liegen noch zwei andersgeartete Schichten. Zu der einen gehört
der halbnackte Mann, der – wenn man die obere Bildhälfte abdeckt – in
südlicher Sonne unter Palmen auf einem Badelaken zu liegen scheint. Ein
roter Vogel flüstert ihm von der Palme herab etwas ins Ohr. Die Figur ist
durchaus noch in naiver Manier ge- halten. Mit den ausgebreiteten Armen
gemahnt sie auch an einen Gekreuzigten. Als dritte Schicht durchziehen das
Bild verschiedene Farbstreifen – hellgelb, in drei Blau- tönen, und rot –,
teilweise mit kleinen Kreisen und Nummern versehen. Man denkt an den Plan
für ein Würfelspiel oder auch an eine Wanderkarte mit markierten Stationen.
Nach der Erprobung eines expressiven, »wilden« Farbauftrags im Jahr 1987
setzte sich für vier Jahre eine stark von der schwarzen Zeichnung bestimmte
Bildgestaltung durch, die in manchem an die Zeichnungen Ernst Ludwig
Kirchners aus seiner Berliner Zeit von 1911 bis 1914 erinnert. 1988 hat sich
das eben beschriebene Bildmotiv in diesem Sinne gewandelt. Der Liegende ist
zum Drachen geworden (WV 271). Der Vo- gel, in der alten Symbolik ein
Begleiter des Drachentöters, hat sich von ihm abge- wandt. Zwei Wochen später
entstand Eisermanns erste Darstellung des heiligen Georg, des Drachentöters.
Von den expressionistischen Vorbildern unterscheiden sich Eisermanns
Arbeiten auch in dieser Phase unter anderem durch ihren meist ornamentalen
Charakter, der sich häufig in symmetrischen Kompositionen und Baumreihungen
oder in aufgereihten Figuren und in wachsendem Maße auch in gemalten
Rahmungen ausspricht. Zirkus- und Indianerbilder sind dabei bevorzugte
Themen. Interessant ist gerade der Ver- gleich zwischen zwei Bildern gleichen
Themas. 1990 entstand wieder eines mit dem Titel »Im Zoo«, jedoch ist jetzt
nicht mehr der Traum vom Paradies dargestellt. Vorn wird in einem schilfumstandenen Teich anscheinend ein Mensch von einem Krokodil
zerfleischt. Liebevoll aneinandergeschmiegte Paare blicken lächelnd auf die
Szene herab. Die Figuren links und rechts scheinen ebenfalls Tiere zu sein
und sind – wie die Menschen – in Einzelkäfigen separiert. Alles ist
geheimnisvoll – friedlich und be- drohlich zugleich, nicht mehr das Paradies
des Friedens, sondern das Paradies, in dem das Schrecklichste geschieht.
Dazu ist alles von zwei Randstreifen und einem Ornamentband oben eingefaßt.
Von 1986 bis 1989 arbeitete Eisermann als Requi- siteur am Potsdamer Theater,
und das andersartige, intensive Erlebnis der Guckkas- tenbühne hat sich
offensichtlich auf seine Kunst ausgewirkt. »In die Sonderwelt der Bühne oder
des Bildes gestellt, wird der Mensch zum raumbehexten Wesen«, schrieb Oskar
Schlemmer.(11) Nun hat gewiß Eisermanns Malerei mit der Schlemmers nichts
gemein. Aber das Verständnis des Bildes als einer der Bühne verwandten
Sonderwelt, in der alle Dinge, jedes Geschehnis, jede Geste, jede Farbe,
jedes Zeichen eine über das Alltägliche hinausreichende Bedeutung erhalten,
finden wir auch bei Eisermann. Und eigentlich ist es, wie sich nun
feststellen läßt, von Anfang an für seine Bilder be- stimmend gewesen. Jetzt
fand es, über die bewußte Komposition hinaus, oft in der bühnenartigen
Rahmung des Bildmotivs eine adäquate Form.
Die Malweise Eisermanns wandelte sich nicht gleichzeitig mit der
grundsätzlichen Ver- änderung der allgemeinen Lebensbedingungen 1989/90.
Weiterhin herrschten die schwarzen Linienbündel und Schraffuren, verbunden
mit einer überwiegend dunklen Farbigkeit vor. 1991 wurden die Formen
flächiger und die Motive archaischer, aber noch immer blieb der
Gesamteindruck dunkel-verhalten. Erst nach der New York-Rei- se 1992 scheinen
sich durch das quirlige Leben dieser Metropole Schleusen geöffnet zu haben,
durch die kräftige, heitere Farben sprudelten. Gleichzeitig verfestigten
sich geometrische Formen und schufen feste Bildgerüste, wie sie erstmals in
den Bildern von Manhattan formuliert wurden. Die Turmhochhäuser sind wieder
wie Spielzeug aufgereiht, bestimmen aber formatfüllend die Struktur des
Bildes.
Ein zweites neues Motiv wurde in dieser Zeit aufgenommen: die Herzform. Es
war ei- ne Reaktion auf den Aufkleber »Ein Herz für Kinder«, der viele Autos
zierte und von Eisermann als entleertes Symbol empfunden wurde, als
heuchlerisch appliziertes Zei- chen, das oft genug ganz andere Interessen und
egoistische Rücksichtslosigkeit not- dürftig verdecken sollte. Er setzte sich
das ehrgeizige Ziel, dieses triviale Symbol wieder mit einem tief reichenden
Gehalt zu verbinden, es zum Ausdruck menschlicher Verletzbarkeit und
wahrhaftiger Liebe zu führen (12). Wie gefahrvoll diese Gratwan- derung war,
zeigt schon die Reaktion der Kunstkritik, als die Herzbilder 1994 erstmals
ausgestellt wurden: »Doch insgesamt bleibt die Ausstellung eher
konventionell und manchmal wird es auch nahezu kitschig, wenn man z.B. an
den Bilderzyklus mit den leuchtend-roten Herzen denkt.« (13)
Die Verwendung
des Herzsymbols ist in der Kunst des 20. Jahrhunderts nicht ohne Beispiel.
Häufiger finden wir es unter anderem in den Werken Paul Klees, aber auch bei
dessen jüngerem Freund, dem ab 1928 in Paris tätigen Maler Hans Reichel.
Beiden ist es dabei gelungen, jede Trivialität zu vermeiden. Aber wohl
keiner, der diese Ziele hatte, hat das Herz zum hauptsächlichen oder gar
alleinigen, fast formatfüllenden Motiv gemacht, wie Eisermann. In vielem
aber scheint er mir Hans Reichel verwandt zu sein, der sich – ebenfalls
Autodidakt – bis an sein Lebensende die Naivität eines unmittelbaren,
unverstellten Gefühls bewahrt hat. Eine solche Naivität des Empfin- dens,
vermittelt durch die expressive Farbigkeit der Bilder, verhinderte den
Absturz Eisermanns in den Kitsch und ließ den Künstler sein hoch gestecktes
Ziel erreichen – das sich dann doch auch als Weg zu weiteren Zielen
offenbarte.
Die zwei Motive – Haus und Herz – dominierten für mehrere Jahre in seinem
Werk, einzeln und miteinander kombiniert. Andere Symbole traten hinzu, wie
die Spirale oder das Auge. Das Haus wird manchmal zum Schloß mit seitlichen
Türmen oder mit Sei- ten- und Mittelrisalit, das Herz zum Herz-Blatt oder zum
flammenden Herzen unterm Kreuz (WV 501), einem Symbol ganz und gar
christlichen Ursprungs, das Frömmigkeit und Hingabe verkörpert (14). Eine
ungeheure Fülle symbolischer Ausdrucksvarianten breitet sich in diesen
Werken aus. Eisermanns Malweise wurde bei aller dekorativen und ornamentalen
Formenstrenge immer freier. Teilweise mit Collagetechniken ver- bunden,
gelangte er zu einer sehr lebendigen materialfühligen Bildhaut in spannenden
Kontrasten.
Selbst diese symbolische Welt blieb für Eisermann erzählerisch, und sie
wurde weiter- hin in die Guckkastenbühne einer ornamentalen Rahmung gestellt.
1994 entstand eine Reihe von »Schießscheibenbildern«. Schießscheiben für
Schützenfeste waren eine traditionelle Aufgabe für volkstümliche, naive
Malerei. Eisermanns »Schießscheiben- bilder« sind farblich besonders
differenziert und harmonisch, von fast pastellhafter Zartheit. In den Titeln
konfrontiert er jeweils den erteilten Befehl mit seinem Ergeb- nis. Damit
rücken die Bilder vom zivilen Schützenfest in den militärischen Bereich.
Aber der Befehl »gezieltes Feuer« erreicht nur »gestreute Einschüsse«. Unter
dem Zeichen der Herzen in den Dächern des schloßartigen Gebäudes wird am
Ziel vorbei- geschossen, und die Einschüsse mutieren zu Streublümchen. Bei der
jetzt oft flä- chendeckend ornamentalen Bildauffassung mußte Eisermann
eigentlich ein beson- deres Interesse für das Werk von Henri Matisse
entwickeln. Seine Reaktion darauf mit dem Bild »Der letzte Tanz« von 1995
vernachlässigt aber diese bei zahlreichen Werken des Franzosen so
hervorstechende Eigenschaft. Es ist eine echte Metamor- phose der Matiss’schen
Tanzmotive, mit der sich Eisermann von formalen Einflüssen vollkommen frei
hielt. Gerade darin zeigt sich die jetzt gewonnene Sicherheit und
Ei- genständigkeit, die keines fremden Haltes mehr bedurfte, auch wenn dadurch
Zweifel und Unzufriedenheit nicht verschwunden waren.
Eine letzte Wandlung – vielleicht nur eine Steigerung – des Malstils
deutete sich 1997 durch ein immer stärkeres Aufreißen der Farbflächen und
eine expressive Locke- rung der Pinselführung an. Freilich lassen sich immer
nur Tendenzen beschreiben, denn das Werk Eisermanns ist nie eingleisig.
Durch alle Jahre wird es von Arbeiten begleitet, auf die das Gesagte nicht
oder nur teilweise zutrifft, die »Ausnahmen« darstellen, wie der bildgewordene Grundriß seiner letzten Wohnung in der Tuchma- cherstraße in
Potsdam-Babelsberg. Und dennoch ist es immer wieder Stefan Eiser- mann, der
uns in jedem dieser Bilder gegenübertritt. Jedes von ihnen wirft ein eige- nes
Licht auf ihren Schöpfer, der sich aber doch erst in der Zusammenschau aller
– von den ersten bis zu den letzten – weitgehend zu erkennen gibt.
Die Schwierigkeiten und Probleme seines letzten Lebensjahres –
zwischenmenschli- cher und gesundheitlicher Natur – haben das Entstehen einer
großen Reihe außer- ordentlicher Kunstwerke nicht beeinträchtigen können. In
ihnen hat er alle Zag- haftigkeit abgelegt. Der noch immer mühsame Kampf um
die Form wird von den Ele- menten des Zufalls und der Spontaneität versteckt,
wie auch ihre Symbolik sich wie- der etwas verbirgt. So werden sie
gleichzeitig lockerer und gewichtiger. Die Erfahrun- gen aller
Schaffensperioden vereinigen sich wie selbstverständlich. Bewegte Land- schaft
und Figur sind in ihnen ebenso zu Hause wie Geometrie und Ornament, die
na- ive, märchenhafte Erzählung, der expressive Ausdruck, das
verallgemeinernde Sym- bol. In vielen dieser Bilder taucht ein großer roter
Fleck auf, oft ohne Kontur und da- her nicht als Kreis zu bezeichnen.
Gelegentlich ist dieser rote Fleck als untergehende Sonne definiert, meist
aber ist er als symbolische Form zu definieren. In der tradi- tionellen
Symbolik verweist die Sonne auch auf das Herz. Beide sind Zentrum des
Le- bens, ja des Makrokosmos und des Mikrokosmos. Himmel und Mensch treffen in
ihnen zusammen, und es manifestiert sich transzendente Intelligenz und
Weisheit. Sie scheint sich auch darin zu zeigen, daß der zu kurze
künstlerische Weg Stefan Eiser- manns einen gültigen Abschluß gefunden hat.
1 Ein Porträt des Friedrich Wilhelm von Seydlitz, das im Januar 1974
entstand, gehört sachlich noch zu den Laubsägearbeiten. Die erste davon
unabhängige Malerei ist der »Mann mit Zylinder, Fragezeichen und Kerze« vom
18. Dezember 1974.
2 Berichtet von Harry Mohr
3 Lexikon der Kunst, Bd. 3, Leipzig 1975, S.488–489
4 Vgl. die
biographischen Notizen zum Jahr 1978
5 Michael Hametner, Über die Bilder Stefan Eisermanns, Eröffnungsrede,
Typoskript im Nachlaß des Künstlers.
6 Wie Anm. 5
7 Die 1977 in Dresden erschienene 2. Auflage des großen Buches über
Hieronymus Bosch von Wil- helm Fraenger befand sich in Eisermanns Besitz und
weist Spuren häufiger Benutzung auf.
8 Vgl. den
Text von Thomas Kumlehn
9 Zu Jürgen Gustav Haase vgl. die
biographischen Notizen zum Jahr 1979
10 Solche Landschaften waren im Herbst 1986 in Berlin innerhalb der DDR
erstmals im Original zu sehen. Es gab aber Reproduktionen, z.B. in dem von
mir herausgegebenen, 1986 in Leipzig in er- ster Auflage erschienenen Band
»Der Blaue Reiter. Dokumente einer geistigen Bewegung«.
11 Vgl. Oskar Schlemmer, Neue Formen der Bühne, in: Schünemanns Monatshefte
1928, H. 10, S.1062–1072
12 Eisermann berichtete darüber sowohl Erik Bruinenberg als auch Berit
Grötz.
13 Frank Jast, Kraftvoll, kitschig und konventionell, in: Potsdamer Neueste
Nachrichten, 5.7.1994
14 Vgl. zur religiösen Thematik im Werk Eisermanns den
Text von Thomas Kumlehn
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